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NOT MY DEADLINE von Ines Maria Wallraff – ein Buch über alles, was nicht im Beipackzettel steht. Voller Humor, radikal ehrlic

Leseprobe

SOLDATEN UND KEIME IN DER KRAKE

Es ist dieser eine Donnerstag im August. Ich sitze in meinem Homeoffice, an meinem viel zu kleinen Schreibtisch, auf meinem 3.000-Euro-Vitra-Bürostuhl, der keine einzige gesunde Funktion hat – er ist nur schön. Direkt neben mir summt meine WLAN-Box, die 24/7 kräftig blinkt und ihre Strahlen in jeden Winkel meiner 60-qm-Wohnung ballert – und in meinen Kopf. 

 

Ich arbeite in der Werbung – mein Gehirn auch oft 24/7, wie meine WLAN-Box. Und egal ob ich zu Hause oder in irgendeiner fancy Bude auf der Kö, in Berlin oder Hamburg sitze, es ist überall das Gleiche – ich weiß selten, was der Tag bringt. Ich weiß nie, ob ich mich abends noch verabreden kann oder ob ich zusätzlich zu meinen Jobs noch einen weiteren annehmen muss. Und dann ist es manchmal so ruhig, dass ich nicht weiß, was ich abends in die digitale Stempeluhr eintragen soll. Denn wenn ich dort zu wenig eintrage, macht mir zwei Tage später irgendein Berater die Hölle heiß, weil man dem Kunden zu wenig berechnen kann. Ich habe oft das Gefühl, dass sich mein ganzes Leben eigentlich nur um meinen Job dreht. 

Und so sitze ich über Jahre in diesen Clean-Desk-Büros, immer mit der Angst im Nacken, den Dingen nicht gerecht zu werden. Dem ständigen Druck, der Konkurrenz, den internen Spielchen, wirklichen Arschlöchern und unzähligen Überstunden verdanke ich eine andauernd flache Atmung, eine permanente Anspannung, viele Zigaretten und jede Menge Alkohol. 

Sind daran jetzt die anderen schuld? Natürlich nicht. Ich hätte ja auch was anderes machen können – habe aber nie den Absprung geschafft. Und irgendwann war es halt mal cool, Werber zu sein. Außerdem dachte ich immer, ich könne nichts anderes. Am Ende habe ich mich aber einfach von morgens bis abends selbst belogen. 

 

Ich sitze also an diesem einen Donnerstag im August zu Hause und arbeite. Irgendwie bin ich schlapp, was ich aber wie immer dem Stress in die Schuhe schiebe oder der Pulle Wein, die ich am Abend davor leer gemacht habe, um abschalten und schlafen zu können. Aber heute geht es mir besonders schlecht. Irgendwann will mein Hund raus und ich merke, dass ich noch nicht mal dazu in der Lage bin. Ich wohne auf dem Land und frage in unserer Dorf-Gruppe, ob jemand ihn zum Spazierengehen mitnehmen könne. Das habe ich noch nie gemacht – mein Hund ist mein Ein und Alles und eigentlich ist mir die eh schon wenige Zeit mit ihm heilig. Es meldet sich eine Nachbarin, die ihn mitnimmt, ich setze mich wieder vor meinen Laptop und hacke weiter in die Tastatur. Irgendwann merke ich, dass ich keine richtige Luft mehr bekomme. Und dann bekomme ich Angst.

 

Mein Hausarzt ist direkt um die Ecke und ich gehe wie ferngesteuert dorthin – ich bin niemand, der da sonst freiwillig oder überflüssig hingeht. Auf dem Weg merke ich etwas in mir, das ich noch nie so gefühlt habe und das ich auch nicht wirklich beschreiben kann. Irgendetwas ist sehr seltsam. Ich weiß nur, dass ich hier mit einer Packung “Ibus” nicht weiterkomme und bitte meinen Arzt, mir eine Überweisung für die Notaufnahme zu geben. Er wirkt ein wenig irritiert, doch meine Atemnot lässt ihn seine Unterschrift auf den Zettel kritzeln.

 

Auf dem Weg nach Hause fällt mir ein, dass ich ein Problem habe: meinen Hund. Die Hundesitterin, die seit Jahren auf ihn aufpasst, ist im Urlaub. Mir fällt in meiner Not nur eine Nachbarin ein, bei der er aber noch nie war. Ich texte sie an. Ich bin nicht sonderlich gut darin, andere um etwas zu bitten, doch jetzt habe ich einfach keine Wahl. Es dauert keine zwei Minuten, bis die Nachbarin sich meldet. Sie sagt, ich könne ihn sofort bringen, so lange es auch dauern möge. Damit habe ich nicht gerechnet und ich atme auf, soweit das noch möglich ist.

Ab hier fange ich an zu lernen, dass man dem Leben vertrauen kann. Denn wenn man ganz stark und intensiv bei sich und in der Sache ist, findet sich eine Lösung – manchmal erkennt man sie nur nicht sofort. Und genau dieses Muster wiederholt sich in den nächsten Wochen ständig. Ich lerne gerade, alles so anzunehmen, wie es ist – jetzt, in diesem Moment. Am Ende ergibt vieles einen Sinn, auch wenn ich ihn manchmal gar nicht oder erst sehr viel später verstehe. 

 

Ich schleppe mich den kurzen Weg vom Arzt nach Hause. Meine Luft wird immer dünner. Ich krame meinen Koffer vom Speicher und werfe, ohne nachzudenken, irgendwelche Klamotten hinein. Ich mache alle Geräte aus, packe eine Tasche für meinen Hund und schließe ab. Auf die Idee, jemanden anzurufen, der mir hilft oder mich zum Krankenhaus fährt, komme ich nicht.

 

Mein Hund ist die ganze Zeit ganz ruhig und guckt mich nur mit seinen riesigen Augen an. Ich setze ihn in mein Auto, was er eigentlich hasst und wobei er sich sonst eher wie eine sträubende Katze verhält, aber heute gibt er keinen Mucks von sich – er merkt es. Die Übergabe an meine Nachbarin dauert keine drei Minuten, und wir alle merken, dass ich mich beeilen sollte. Ich küsse meinen Hund auf den Kopf und sage ihm, dass ich bald wieder da bin. Das Wort “wieder” kennt er, vertraut mir und trottet anstandslos der Nachbarin hinterher. Ich selber glaube auch noch, dass ich bald “wieder” da bin.

 

Ich fahre acht Minuten mit meinem Auto zum Krankenhaus. Auf dem Weg habe ich Angst zu sterben.

 

Dann stehe ich am Empfang der Notaufnahme – in bunter Yogahose, Flipflops, Tanktop und meinem überdimensionalen Koffer. Die Frau am Empfang fragt mich, ob ich in den Urlaub fahren wolle. Eigentlich habe ich in wirklich jeder Situation einen ausgesprochen wilden Humor – heute nicht. Ich gebe der Komikerin meine Zettel vom Arzt und warte. Ab hier fängt für mich das Warten an, was ich über Wochen wirklich hart lernen muss.

Dann schlurft ein dicklicher Pfleger, der mehr als ich nach Malle-Urlauber aussieht, auf mich zu. Er hat ein aufgequollenes Gesicht und “Out-of-Bed-Hair”, aber nicht selbst gestylt, sondern zu lange nicht gewaschen. Sein T-Shirt ist zu kurz, sodass man den Ansatz seines Hinterns sehen kann. “Ritze” fragt mich, was ich denn hätte, und ich sage ihm, dass ich das nicht genau wisse – vielleicht Corona, vielleicht eine Lungenentzündung – irgendetwas stimme so gar nicht mit mir. Er guckt mich an, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank. “Ritze” sagt, dann sei ich in der Notaufnahme falsch und solle bitte zum Krankenhausempfang gehen und dort die normale Prozedur der Anmeldung durchlaufen, wie jeder andere auch. Ich verstehe ihn. Ich finde Menschen, die die Notaufnahme mit Kopfschmerzen verstopfen, auch doof. Aber ich spüre ja, dass da in mir etwas ganz Seltsames ist, etwas Unheimliches. Ich versuche “Ritze” das noch mal klarzumachen, aber er atmet nur schwer, als würde ich ihn beim Fußballgucken stören. Na gut, ich rolle meinen Koffer Richtung Ausgang und bekomme “zum Glück” genau in diesem Moment so wenig Luft, dass ich umkippe – “Ritze“ kann mich gerade noch auffangen. Er schleppt mich in ein Zimmer, legt mich auf eine Liege und schließt mich an ein Beatmungsgerät an. Er sagt die ganze Zeit über kein einziges Wort.

Dann kommt eine weitere Pflegerin, auch sie guckt, als würde ich stören. Sie setzt sich vor den Computer und stellt mir Fragen wie ein Soldat. Durch ihre Tonlage und ihren Gesichtsausdruck macht sie mir sehr klar, dass ich bitte korrekt, ordentlich und richtig antworten solle. Nach ein paar Ja-Nein-Fragen fragt sie mich etwas, das ich nicht weiß, und sie schneidet mir fast das Kabel für die Luft durch.

Irgendwann nimmt mir irgendjemand Blut ab. Ich liege einfach nur da und bin froh, dass ich atmen kann. In meinem Kopf denke ich, gleich kommt jemand rein und sagt: “Sie haben eine dicke Lungenentzündung, wir bringen Sie jetzt auf die Achte und dann bleiben Sie ein paar Tage zur Beobachtung hier.” In drei Tagen bin ich hier wieder raus ...

Aber – der “Soldat” kommt rein und sagt: “Es sieht nicht gut aus, die Ärztin wird Ihnen das gleich erklären.” Der “Soldat” ist komischerweise jetzt etwas netter zu mir, und ihre Körpersprache hat sich verändert.

Dann steht eine Frau vor mir und stellt sich als die Ärztin vor, die mir das jetzt alles erklärt. Das Fachgebiet, das sie hinter ihren – mir in diesem Moment viel zu langen – Namen anhängt, habe ich noch nie gehört. Zumindest dringt es nicht in mein Gehirn. Sie guckt mich schief an und atmet so schwer wie “Ritze” eben, aber freundlicher. Sie sagt: “Ich sage es Ihnen jetzt ganz unverblümt – Sie haben Leukämie. Sehr schwer. So schwer, dass wir Sie hier nicht behandeln können, wir bringen Sie jetzt sofort in eine andere Klinik.” Ich schlucke irgendetwas ganz Schweres runter und nicke nur.

    

Heute wundere ich mich, dass ich nicht gefragt habe, ob ich nicht selbst fahren könne. Aber damals war mir noch nicht klar, wie viel ich ab jetzt lernen würde – über mich und über die anderen.

Ein paar Minuten später liege ich angeschnallt im Krankenwagen, wie auch mein riesiger Koffer, der aussieht wie meine Begleitung. Kurz bevor der Fahrer die Tür zumachen will, kommt der “Soldat” angerannt. Sie lächelt mich mit kleinen Tränen in den Augen an und sagt: “Sie können doch nicht einfach so abhauen, ohne Tschüss zu sagen. Ich wünsche Ihnen alles Gute und werde an Sie denken.” Ich bin verwirrt, aber verwirren werden mich noch so einige. In Schockstarre sage ich irgendwas und winke mit der angeschnallten Hand.

Der Wagen rollt los, und ich sehe noch mein kleines Auto auf dem Notaufnahme-Parkplatz, wo ich nicht stehen darf. Meine Gedanken kreisen ums Abschleppen, was das wohl kostet, und wie ich wieder an mein Auto komme. 

Das Tatütata des Krankenwagens reißt mich aus meinen Gedanken. Übertreibt nicht mit dem Krach, denke ich, denn mit der Atemmaske auf meinem Gesicht geht es mir eigentlich ganz gut. Ob die mich vielleicht zu Hause einfach absetzen können? Liegt ja auf dem Weg.

NOT MY DEADLINE. Ende 2025: 

NOT MY DEADLINE von Ines Maria Wallraff – ein Buch über alles, was nicht im Beipackzettel steht. Voller Humor, radikal ehrlic
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